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Jun 282012
 

Jugendliche Migranten mischen das Hochdeutsch auf

von Hadija Haruna

In der Clique, auf dem Schulhof, im Viertel: Überall kann eine eigene Sprache entstehen. Gerade Jugendliche verändern das Hochdeutsch kreativ, um sich abzugrenzen, oder einfach aus Spaß an der Sprache. Ein Lauschangriff

„Es war ma krass frustrierte Tuss, dem hatte Stiefkind. Das hat immer in sein Spiegel geguckt un den angelabert: Spiegel, Spiegel an Wand, wer is dem geilste Tuss in Land?“ Die 17-jährige Güldem zitiert das Märchen von Schneewittchen, das es längst in einer Ethnolekt-Version gibt. So nennen Sprachforscher den verkürzten und abgehackten Sprachstil, der bundesweit auf Schulhöfen und Straßen zu hören ist. Was für viele Wissenschaftler eine kreative Entwicklung der deutschen Sprache ist, bezeichnen Kritiker abwertend als „Dönerdeutsch“ oder „Ghettoslang“. Güldem und ihren Freundinnen Samira und Simone ist das egal. Auch, dass sie von vielen als „Assis“ abgestempelt werden. Die drei Gymnasiastinnen aus Frankfurt sind in Deutschland geborene Kinder türkischer, ghanaischer und deutscher Eltern. Sie sprechen fließend Deutsch – wenn sie wollen.

Jede Zeit hat ihre Sprache, und Jugendliche haben schon immer versucht, sich durch ihre eigene abzugrenzen. In multikulturellen Großstädten wie Frankfurt oder Berlin kreieren sie ihren eigenen Jargon, der für Nichtsprecher grammatisch falsch klingt. Es gibt Studien, die belegen, dass viele der Sprecher mehrsprachig sind und – anders als vielleicht erwartet – auch gut in der Schule. „Ethnolekt ist keine Ausländersprache und unterscheidet sich in seiner Grammatik vom gebrochenen Deutsch der Gastarbeitergeneration“, sagt die Germanistin Heike Wiese von der Universität Potsdam. Vielmehr sei es eine dauerhafte Veränderung der Sprache, weil viele Jugendliche sie verinnerlichten.

Begrüßungen, Verabschiedungen, Schimpfwörter, Drohformeln oder Flirtsprüche: Im Ethnolekt schrumpft der deutsche Gesamtwortschatz kontinuierlich zusammen. Einfache Satzkonstruktionen werden aus Subjekt, Prädikat und Objekt gebildet, Artikelformen und Präpositionen weggelassen („wenn wir Hochzeit gehen“), Genera verändert („son großer Plakat“), und oft fehlen die Pronomen („die haben mir beigebracht“). Beim sogenannten Codeswitching werden mitten im Satz türkische, arabische oder serbokroatische Lehnwörter eingebunden: „yalla“ für „auf geht’s“ oder „wallah“ (bei Gott), wenn etwas mit Nachdruck versichert wird. „Isch schwör“ bekräftigt eine Aussage, alles in Ordnung heißt „Tamam“, und Einschübe wie „Lan“ oder „Moruk“ sind im Ethnolekt ebenso geläufig wie die deutsche Entsprechung: „Alda“. Außerdem zählen Ausrufe wie „weissu“, „krass“ oder „korrekt“ dazu. Wichtig bei der Aussprache ist die spezielle Stakkato-Intonation – und typisch die sogenannte Koronalisierung des Ich-Lauts: Isch, misch, disch. Ein mustergültiger Satz lautet: „Isch geh gleisch U-Bahn.“

Von der Straße auf den Bildschirm und dann wieder zurück

In Zeiten von Anglizismen und Computersprache verbringen Linguisten viel Zeit damit, Jugendlichen zuzuhören, ihre Unterhaltungen aufzuzeichnen und auszuwerten und Bücher über ihren phonetischen Sprachmischmasch zu schreiben. Sprachforscher wie der Germanist Peter Auer von der Freiburger Uni unterscheiden zwischen drei Formen des Ethnolekts: dem primären, sekundären und tertiären. Ersterer sei vor nahezu zwanzig Jahren in Großstädten entstanden, bezeichne ein unbewusstes Sprachverhalten und werde hauptsächlich von türkischstämmigen Jugendlichen der zweiten und dritten Generation gesprochen. Der sekundäre wird als mediengesteuerte Reaktion auf Ersteren verstanden, der frei erweitert, hochgradig stilisiert und in Filmen, Comedys oder Comics eingesetzt wird. Bekannte Sprecher sind Comedians wie Erkan und Stefan, das Duo Mundstuhl mit seinen Figuren Dragan oder Kaya Yanar. Letzterer etablierte die Figur des türkischen Diskotürstehers und seinen Slogan „Ey Alder, du kommst hier net rein“. Und seit Ende der Neunziger gilt das Buch „Kanak Sprak – 24 Mißtöne vom Rande der Gesellschaft“ des türkischstämmigen Schriftstellers Feridun Zaimoglu als Mainstream-Lektüre zum Thema.

Auch deutsche und drittethnische Jugendliche sprechen Ethnolekt – die tertiäre Form. Es heißt, dass sich diejenigen, die ihn dabei mit einer auffälligen Betonung überzeichnen und sich damit darüber lustig machen, von den echten Sprechern abgrenzen wollen. Nehmen sie den Ethnolekt jedoch in ihre Umgangssprache auf und unterscheiden beim Sprechen nicht mehr zwischen fremdem und eigenem Stil, wird er zum Soziolekt. Sprachforscher Jannis Androutsopoulos bezeichnet den Verlauf: „von der Straße auf den Bildschirm und wieder zurück“.

Ethnolekt ist nicht nur ein stilistisches Mittel, sondern steht charakteristisch auch für die Beziehung der Jugendlichen untereinander und ihren Versuch, ihre eigene, besondere Identität zu bestimmen. Ein Merkmal dafür sind beispielsweise verbale Duelle untereinander, die nur möglich sind in einer gefestigten Gruppe und einem gemeinsamen Wissen darüber, was erlaubt ist und was nicht. „Er signalisiert, dass sie sich zugehörig fühlen und nah sind, aber auch, dass sie sich nicht erst integrieren müssen, sondern es bereits sind“, sagt Wiese.

Auch ist Ethnolekt nicht neu oder eine rein deutsche Erscheinung. In Ländern wie Frankreich, England, Schweden stellen Linguisten ähnliche Strukturen fest. Rap sei das CNN junger Schwarzer, erklärte einst Chuck D von Public Enemy. In den Vororten Frankreichs, wo viele Menschen afrikanischer Herkunft leben, hat sich in den sechziger und siebziger Jahren die sogenannte Sprache der Banlieue entwickelt. Die salonfähige Varietät des Französischen ist wie in Deutschland medialer Inhalt geworden. Eine besondere Ausprägung davon heißt „verlan“. Dabei werden einzelne Wörter im Satz betont und verschlüsselt, indem ein Wort in Silben zerlegt und in umgekehrter Reihenfolge wieder zusammengesetzt wird. So wird bonjour zu jurbon, français zu cefran und musique zu siquema.

Wer Hochdeutsch spricht, gerät in Verdacht, arrogant zu sein

„Jede Zeit hat ihre Wörter. Manche kommen und gehen, andere halten sich“, sagt die 19-jährige Renata. Sie besucht ein Gymnasium in Berlin-Kreuzberg. Ob sich eine Floskel halte, entscheide die Mehrheit der Sprecher. Zudem käme es darauf an, in welchem Kiez man sich aufhalte. „In Wilmersdorf sagen sie andere Sachen als hier bei uns“, sagt Renata, „das Wort ‚gebügelt‘ bedeutet da ‚übertrieben‘.“ In Kreuzberg würde das niemand benutzen. In Berlin, Frankfurt und anderen Großstädten zeigt sich, dass der Ethnolekt nicht von der Herkunft oder der Muttersprache abhängig ist, sondern vom Wohnort der Sprecher – und dem, was gerade angesagt ist. Das sagt auch Renatas Freundin Betül: „,Mies‘ ist gerade angesagt in Kreuzberg.“ Es bedeutet so viel wie „abgefahren“ oder „der Hammer“. Begriffe wie „cüs“ (türkisch für pfui) oder „Bombe“ hingegen hätten ausgedient.

„Wir wissen, wie wir mit wem reden müssen. Mit einem Lehrer oder meinen Eltern würde ich nicht so sprechen. Aber nicht alle könnten switchen“, sagt Samira aus Frankfurt, die mühelos zwischen Ethnolekt und Standarddeutsch (Hochdeutsch) hin und her wechseln kann. Die 17-Jährige glaubt, dass es auf die sprachlichen Einflüsse ankommt, mit denen man aufgewachsen ist. „Manche kennen eben nur diese eine Sprache.“ Samiras Einschätzung belegen auch Untersuchungen. Und sie zeigen noch etwas anderes. Nämlich, dass für viele Außenstehende Ethnolekt oft mit Aggression und kriminellen Jugendlichen assoziiert wird. „Dass die Sprechart vielen beim Zuhören aufstößt, liegt an der generellen Einstellung gegenüber Dialekten“, sagt Wiese. Nicht nur, dass bestimmte Bilder mit ihnen assoziiert würden, sie würden auch als falsches Deutsch empfunden, weil sie nicht dem offiziellen Standarddeutsch entsprechen.

Samy, ein Kind nigerianischer Eltern, habe sich die Redeweise nach dem Wechsel von der Schule an die Uni nach und nach abtrainiert. „Anfangs habe ich die dummen Kommentare nicht ernst genommen, später hat es mich gestört“, sagt der 23-Jährige. Wie lange es gedauert habe? „Irgendwann war es weg“, sagt der Student. Es sei ein Nachteil gewesen, draußen so zu sprechen. Doch wer Standarddeutsch spreche, gerate in der Clique schnell in den Verdacht, arrogant zu sein, sagt Samira. Über diesen Punkt hat Renata noch nie wirklich nachgedacht: „Bei uns denkt keiner darüber nach, ob es falsches oder richtiges Deutsch ist.“ Zudem sei es bequemer, nicht immer ganze Sätze sagen zu müssen, ergänzt Nilüfer. „Wir verstehen uns einfach mit wenigen Worten.“

Hadija Haruna studierte Politikwissenschaften in Frankfurt. Als Redakteurin arbeitet sie für die junge Welle des Hessischen Rundfunks (you fm) und als freie Autorin unter anderem für den Tagesspiegel, das Fluter Magazin und die ZEIT. Auf ihrer Homepage hadija-haruna.de veröffentlicht die Deutsch-Ghanaherin regelmäßig ihre Texte.

erschienen in: fluter. Sommer 2011 / Nr. 39 (Thema Sprache)

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