Media4Us » Türkei https://www.media4us.de/wp Ein weiterer WordPress-Blog Mon, 23 Feb 2015 14:22:24 +0000 de-DE hourly 1 http://wordpress.org/?v=4.2.2 Die unabhängige Justiz… https://www.media4us.de/wp/2013/04/16/die-unabhangige-justiz/ https://www.media4us.de/wp/2013/04/16/die-unabhangige-justiz/#comments Tue, 16 Apr 2013 13:08:34 +0000 https://www.media4us.de/wp/?p=1393 Eigentlich wollte sich der media4us-Autor Ferhat Epik nicht schon wieder mit dem NSU-Prozess beschäftigen. Doch die Diskussion um die Platzvergabe an ausländische Pressevertreter treibt auch ihn um. Den Anspruch, durch den Prozess Vertrauen zurückzugewinnen, sieht er durch die Haltung des Oberlandesgerichts München aufs Spiel gesetzt. Ein Kommentar. ]]>

Ein Kommentar von Ferhat Epik

Eigentlich will ich schon gar nicht mehr darüber schreiben. Eigentlich sollte ich einfach zuhause sitzen, den Kopf dicht machen und auf leere Wände schauen. Eigentlich könnte ich anderes machen, als mir den Kopf darüber zu zerbrechen, wieso, weshalb, warum, womit. Diese Fragen schwirren aber ständig in meinem Kopf herum. Sie verfolgen mich bis in meine Träume.

Wir sind uns irgendwie alle einig. Die NSU-Morde waren grausam, scheußlich und dürfen in unserem Land nie wieder geschehen. So weit, so gut. Während sich aber ein kleiner Teil der Menschen aktiv dafür einsetzt, dass so etwas nicht noch mal geschieht, versuchen andere (zumeist aus dem rechts-konservativen Lager) zu verschleiern, was eigentlich passiert ist. Die Botschaft ist eindeutig: Links ist schlimmer als Rechts, oder mindestens genauso schlimm. Das war ein Ausrutscher, achtet auf links, links, links.

Dass jetzt die Münchner Justiz eine unrühmliche Rolle in dem Kampf übernimmt, der von rechtskonservativen Idealisten angeführt wird, und sich gegen die diejenigen stellt, die eine lückenlose Aufklärung vorantreiben wollen, zeugt nicht gerade von der Überzeugung „Vertrauen zurück gewinnen“ zu wollen.

Foto: Thorben Wengert / pixelio.de

Zuerst läuft eine Bande durch die Gegend und ermordet aus blankem Rassenhass Menschen. Dabei verschließen Polizei, Landeskriminalämter, Verfassungsschützer und vor allem Staatsanwälte die Augen. Dieser Skandal wird aufgedeckt. Und was passiert dann? Die Behörden verhindern eine lückenlose Aufklärung! Und jetzt sollen auch noch die türkischen und griechischen Medienvertreter an ihrer Berichterstattung gehindert werden. Noch nicht einmal beobachten dürfen die Betroffenen also. Aha, so viel zum Thema Transparenz.

Es hagelt Kritik von allen Seiten. Politik und Gesellschaft, ja sogar die im Saal zugelassenen Medienvertreter melden Bedenken an. Die Münchner Justiz hält aber starrsinnig an ihrem Plan fest. Nun meldet sich sogar der türkische Außenminister und fordert Plätze. Die Antwort im Wortlaut: „Lassen Sie uns in Ruhe, und versuchen Sie nicht Einfluss zu nehmen“. Was sollte denn der türkische Staat machen? Wie viele Rechtskonservativen ebenfalls die Augen verschließen? Nein, der türkische Staat tut das einzig richtige, nämlich seine eigenen Landsleute zu vertreten. Und eben da ist der Außenminister gefragt. Wer da Angst vor Einflussnahme hat, der kann sich gern unter der Bettdecke verkriechen.

Bemerkenswert ist dabei vor allem eines: Es ist die bayerische Justiz, die vor Einflussnahme Angst hat. Der Fall Mollath hat anscheinend seine Spuren hinterlassen, nicht nur bei der Justiz.

Solange der Starrsinn bestimmter Kreise und die bewusste Blindheit einiger Rechtskonservativen in unserem Land Überhand hat, wird weder eine angemessene Aufklärung stattfinden, noch wird es gelingen, den schwelenden Rassismus in den Griff zu bekommen. Das Vertrauen ist schon lange verspielt. So könnte wenigstens gerettet werden, was noch zu retten ist. Auch diese Chance droht nun vertan zu werden.

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Xece https://www.media4us.de/wp/2013/02/01/xece/ https://www.media4us.de/wp/2013/02/01/xece/#comments Fri, 01 Feb 2013 12:51:09 +0000 https://www.media4us.de/wp/?p=1224 Die türkische Provinz Tunceli (früher Dersim) war in den dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts Schauplatz eines kurdischen Aufstandes. Die gewaltsame Niederschlagung führte zu Flucht, Vertreibung und Zerstörung. Die Schülerin Lizge Yikmis hat sich mit der Geschichte der Region befasst. Die Hauptfigur ihrer kurzen Erzählung steht für alle Kinder, die ähnliche Erfahrungen machen müssen. ]]>

Eine Kurzgeschichte von Lizge Yikmis

Ein schreckliches Geräusch. Lärm. Schreie. Woher kamen sie? Erschrocken und neugierig zugleich dachte ich, dass die Natur daran schuld war. Ich suchte den Himmel ab. Er war klar. Die Erde vibrierte. In diesem Moment verlor ich mich, mir wurde schwarz vor Augen.

Ich kann mich nicht erinnern, wie viel Zeit vergangen war, bis die Stimme meiner Schwester zur mir durchdrang. „Xece, Xece.“ Mein Kopf schmerzte. „Was war das? Was ist passiert?“ fragte ich, nachdem ich ihr Gesicht erblickt hatte. Ihre Augen waren weit aufgerissen. Sie antwortete mir nicht. „Ich will zu Mama und Papa!“, flüsterte ich schließlich noch. Ich versuchte aufzustehen, doch hatte keine Kraft in den Beinen. Geje half mir. So rappelten wir uns auf und machten uns auf den Weg. Als wir die Bergspitze erreicht hatten, stand das Dorf unter einer dunklen Rauchschicht.

Je näher wir unserem Dorf kamen, desto größer wurde die Angst davor, was uns erwartete. Unten angekommen, konnten wir unseren Augen nicht trauen. Wir konnten es nicht glauben, mehr, wir wollten es nicht. Vor uns breitete sich ein Bild des Grauens aus. Am Dorfrand, wo unsere Schule gestanden hatte, war ein tiefer Graben. Von den ehemaligen Mauern war nichts mehr zu sehen. Nichts, nichts, nichts. Ich wagte es nicht, in den Graben zu schauen. So fing ich an zu laufen, wurde immer schneller, stolperte über einen Stein und fiel zu Boden, doch als ich meinen Kopf hob, erkannte ich, dass dieser Stein, über den ich soeben gestolpert war, zu unserer Hausmauer gehörte. Ich sah unser Haus.

© Lizge Yikmis

Doch während ich dies schreibe, frage ich mich, ob ich es noch so nennen kann. Es hatte nichts mehr mit dem Haus zu tun, in dem wir gelebt hatten. Die Wand war aufgesprengt, die Steine, die unser bescheidenes Häuschen gebildet hatten, verstreut. Da keine Wand mehr vorhanden war, konnte ich in das Innere blicken. Unser Sofa verbrannt, unsere Türen durchlöchert, und die Fensterscheiben in hunderte Teile zersprungen. War das ein Traum? In diesem Moment fühlte ich, wie sich die Arme von Geje um mich schlangen. Ich fing an zu schluchzen. Die Stille im Dorf erschrak mich noch mehr. So, als ob keine Menschenseele hier jemals gewohnt hätte. Ich versuchte, etwas zu sagen. Meine Stimme versagte. So standen wir da, weinend und eng umschlungen. Plötzlich zerriss ein Knall die Stille, es folgte Gelächter. Geje gab mir ein Zeichen still zu sein. Ich hörte Schritte, sie näherten sich. Grüne Uniformen. Ich wollte zu ihnen laufen, wollte Geje sagen, dass sie uns helfen würden. Jedoch hielt meine Schwester mich zurück. Sie nahm mich an die Hand und zog mich durch den Ort der Zerstörung. Meine Heimat, sie lag zerbrochen am Boden. Ein Schauder durchfuhr mich. Geje zog mich weiter und zischte: „ Schnell, lauf. Schau nicht zurück!“ Ich verstand nicht, wovor wir wegliefen, doch ich hörte auf sie und folgte ihr. Wir liefen zurück auf den Berg.

In allen Geschichten, die meine Großmutter mir erzählt hatte, bezeichnete sie die Berge immer als Beschützer. Ich hatte nie genau verstanden, was sie damit meinte. Bis zu jenem Tag.

Wir stolperten den Berg hinauf, immer weiter, nicht zurückschauend. Immer wieder gingen mir die Bilder durch den Kopf. Ich versuchte sie zu verdrängen. Doch es klappte nicht. Plötzlich stürzten lauter Fragen über mich hinein, wie eine Flut. „Wer konnte so etwas tun? Warum machte man so etwas? Wir sind doch alle Menschen, warum löschen wir uns gegenseitig aus?“ Ich fand keine Antworten. Meine Schwester schien sich dasselbe zu fragen, so liefen wir schweigend nebeneinander her. Geschützt von den Bergen, die sich um uns herum aufbauten. Wie Hände, dich sich um uns legten, um uns vor Unseresgleichen zu retten.

Die Sonne ging unter. Ich blickte nach oben. Die Berge waren umhüllt von Schönheit, da der Sonnenuntergang sie in lebendige Farben tauchte. Doch würden die Gräser je wieder in lebendigen Farben erstrahlen? Das Erlebte verarbeitet werden können, damit man ein lebendiges Leben leben kann? Ich fasste den Entschluss, der Welt zu erzählen, was ich erlebt habe. Hoffnung stieg in mir auf, doch in diesem Moment hörte ich Schritte hinter mir.

 

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“Ausländer raus” https://www.media4us.de/wp/2013/01/14/auslander-raus/ https://www.media4us.de/wp/2013/01/14/auslander-raus/#comments Mon, 14 Jan 2013 09:33:29 +0000 https://www.media4us.de/wp/?p=1107 "Kannst du dir eigentlich vorstellen, wie das ist?" So lautet die Frage, die die Schülerin Özlem jenen stellt, die sie als "Ausländerin" im eigenen Land deklassieren. Vorurteilen und Anfeindungen ausgesetzt zu sein, macht die Sache mit der Heimat noch schwieriger, als sie ohnehin schon ist. Ein Kommentar über das Hin und Her im Kopf und im Herzen.]]>

Ein Kommentar von Özlem Al, Schülerin der 10. Klasse

Menschen wie Dich verstehe ich nicht. Ganz ehrlich, in meinen Augen bist Du Dreck. Und das nicht nur, weil du was gegen uns hast, sondern schon wegen dieses Hakenkreuzes. Bist du stolz auf die Geschichte deines Landes? Wegen Leuten wie dir werden ALLE Deutschen in den Dreck gezogen!

Und jetzt zu etwas Anderem. Ich rede jetzt stellvertretend für ALLE „Ausländer“. Kannst du dir eigentlich vorstellen, wie das ist? Du kommst als türkisches Kind in Deutschland auf die Welt und am Anfang hast du nur Kontakt zu anderen ausländischen Kindern. Dann gehst Du in den Kindergarten, in die Grundschule, in die weiterführende Schule, und du merkst, irgendwie passt du hier nicht rein.

Blick auf die Heimatstadt. Duisburg © privat

Du sitzt zwischen blonden, blauäugigen Kindern und denkst dir: Habe ich was falsch gemacht? Weil dich die Leute auf der Straße komisch angucken.
Du wirst ausgelacht, weil du einmal “das” mit “der” vertauscht hast und weil deine Mutter Kopftuch trägt, und nicht zu vergessen, weil du einfach ANDERS aussiehst. Du läufst draußen rum und hörst “Scheiß Türkin!”.

Dann, nach jahrelangem Hin und Her hast du es irgendwie geschafft, auf ein Gymnasium zu kommen, und du beherrschst die deutsche Sprache besser als einige Deutsche. Du denkst, das müsste doch reichen, um als Deutsche akzeptiert zu werden. Aber nein, wieder nicht. Die Lehrer glauben nicht an dich, die Leute stempeln dich trotzdem als “asozialer Kanacke” ab. Du weißt, als „Schwarzkopf“ wirst du in diesem Land nie dieselben Rechte haben wie andere. Aber du gibst nicht auf und versuchst den Leuten das Gegenteil zu beweisen.

Viele werden jetzt sagen: “Geh doch zurück in dein Land, wenn Deutschland so scheiße ist”. Glaubt ihr wirklich, es wäre so einfach? Stellt euch vor, ihr lebt seit Jahren in diesem Land, in dem eure Eltern und Großeltern im Schweiße ihres Angesichts versucht haben, etwas aufzubauen. Ich glaube kaum, dass ihr Freunde, Verwandte, eure Umgebung, ALLES einfach hinter euch lassen könntet.

Außerdem sagt niemand, Deutschland sei scheiße. Im Gegenteil: wir sind hier geboren, aufgewachsen, wir leben hier, wir sprechen eure Sprache, wir kennen eure Sitten, WIR GEHÖREN ZU EUCH.

Aber ist es nicht trotzdem normal, die Heimat zu vermissen? Als Kleinkind bringt man dich dorthin und ALLES ist so ANDERS –  wärmer, grüner und so… Du lernst deine Verwandten kennen und hast das Gefühl, dass deine Eltern zum ersten Mal so richtig glücklich sind. Zum ersten Mal kannst auch du selbst so sein, wie es deine Kultur vorsieht. Aber dann kommt wieder die Einsicht: Hier bist du auch nicht zu Hause.

Dorfidylle. Sanfte Hügel, Sonne und Blick auf die Moschee © privat

Dort bist du Ausländer und hier bist du Ausländer und das wird sich nie ändern. Und bald musst du zurück und du wirst diese Menschen hier erst in zwei Jahren wiedersehen und es ist immer, als würde man Dir das Herz aus der Brust reißen.
Du weißt nicht, was du denken sollst, wo du zuhause bist, wer du wirklich bist und wieso wir nicht einfach normal leben können – die Welt gehört doch uns allen…

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Mein Vater, der Gastarbeiter https://www.media4us.de/wp/2012/06/29/mein-vater-der-gastarbeiter/ https://www.media4us.de/wp/2012/06/29/mein-vater-der-gastarbeiter/#comments Fri, 29 Jun 2012 09:56:46 +0000 https://www.media4us.de/wp/?p=236 Der Schlosser Ali Tayfur kam vor 42 Jahren nach Duisburg - wurde Betriebsrat, SPD-Mitglied und: heimisch. Rusen Tayfur hat sich auf die Spuren der Geschichte ihres Vaters begeben. Es ist eine Einwanderungsgeschichte, die typisch für die Generation und doch seine ganz eigene ist. ]]>

Der Schlosser Ali Tayfur kam vor 42 Jahren nach Duisburg – wurde Betriebsrat, SPD-Mitglied und: heimisch

von Rusen Tayfur

Foto: © Tanja Pickartz/WAZ-Fotopool

Duisburg. Ich habe mich schon oft gefragt, wie es gewesen wäre, wenn ich in der Türkei aufgewachsen wäre. In Diyarbakır, der südostanatolischen Stadt am Ufer des Tigris, aus der meine Eltern stammen. Aber meine Brüder und ich sind made in Germany, geboren in Duisburg. Schuld daran ist das Anwerbeabkommen, das Deutschland 1961 mit der Türkei geschlossen hat. Und ein heftiger Streit, den mein Vater mit meinem Großvater hatte. Aber alles schön der Reihe nach. Ali Tayfur, der einmal mein Vater werden sollte, war gerade mit der Berufsschule fertig. Fünf Jahre lang hatte er tagsüber gearbeitet und abends gebüffelt. Gleich drei Berufe hatte er sich so erworben: Maschinenschlosser, Dreher und Fräser. Und er wollte noch mehr: die Hochschule in Istanbul besuchen. Mein Opa sah nicht ein, warum er einem seiner acht Kinder solche Sperenzchen finanzieren sollte. „Ich war wütend und enttäuscht“, erinnert sich mein Vater. Wie seine kleinen olivenschwarzen Augen vor Zorn gefunkelt haben müssen, wie er den Kopf mit dem damals noch dichteren schwarzen Haar geschüttelt hat. Zweimal hat dieser kurdische Dickkopf im Zorn eine gewichtige Entscheidung getroffen. Die erste, die dem Streit mit Opa folgte, war eine ziemlich gute, wie wir alle finden. Die zweite, von der noch die Rede sein wird, war, wie nicht nur mein Vater meint, „die dümmste Entscheidung meines Lebens“.

Wütend und enttäuscht also läuft mein Vater ins nächste Arbeitsamt, um sich zum Dienst am deutschen Wirtschaftsaufschwung zu melden. Überall kursieren Geschichten von den ersten Gastarbeitern, die mit einem Koffer losgefahren und im Mercedes, die Taschen voller D-Mark, zurückgekehrt sind. Dann der Gesundheitscheck, den mein Vater über sich ergehen lässt: „Ich hab’ Verständnis gehabt, die Leute wollten uns als Arbeitskraft, ganz logisch.“ Und schließlich steht er eines Montags, am 10. Februar 1969, mit hunderten anderer Männer und Frauen im Istanbuler Sirkeci-Bahnhof, damals noch Endstation des Orient Express. Alle Freunde winken, wer weiß, wann man sich wiedersieht. Fliegende Händler verkaufen Wörterbücher. Dann fährt er ein, der Sonderzug nach Deutschland.

Foto: privat

Halbes Gehalt für den Deutschkurs
Wie die meisten hat mein Vater nur einen Holzkoffer dabei, angefertigt für diese Reise. Darin: „nur ein paar Kleidungsstücke.“ Und auf dem Rücken eine Cümbüs, eine türkische Laute. Noch heute gibt mein Vater abends gern spontane Konzerte, am liebsten, wenn Gäste da sind und ein Glas Rakı vor ihnen steht. „Ich bin nicht des Geldes wegen gekommen, nicht wegen der Arbeit, sondern aus Abenteuerlust.“ Das sagt mein Vater immer, wenn wir von damals reden. Er wollte „Deutsch lernen, die Deutschen kennenlernen, Deutschland auch und dann andere europäische Länder“. Und genau in dieser Reihenfolge hat er es gemacht.

Mein Vater ist von der Mannesmann AG angeworben worden, als Betriebsschlosser im Hauptwerk an der Ehinger Straße in Duisburg. Die erste Zeit wohnt er in einem Ledigenheim in Oberhausen. Nach einer Woche mit Lautsprache am Arbeitsplatz und Gehampel beim Brotkaufen beschließt er, dass es so nicht weitergeht. „Ich habe in meinem Wörterbuch das Wort Sprachschule nachgeschlagen und mich durchgefragt.“ 400 Mark bezahlt er für den Einzelunterricht, die Hälfte seines Gehalts. Fortan büffelt er nach der Arbeit Vokabeln und Grammatik. Zum Beweis holt er gerne die blauen Wörterbücher hervor und die Schulhefte mit gelbem Einschlag. Fein säuberlich stehen darin Wörter und ganze Sätze. Man sieht: Mein Vater hat das damals sehr ernst genommen mit dem Deutschlernen. Die Kollegen im Heim tippen sich an die Stirn. Doch schnell wird er zum Dolmetscher für viele andere, die keine Lust haben, so viel Geld in Deutschkurse zu stecken. Wo sie doch eh nach drei, höchstens fünf Jahren zurückkehren wollen. Mein Vater lacht immer, wenn er das erzählt, er kennt zu viele, die heute noch hier sind. Und manche können immer noch nicht richtig Deutsch.

Mein Vater wird Gewerkschafter, Betriebsrat, SPD-Mitglied. Er hat deutsche Freunde, bald auch eine deutsche Freundin. Während viele Türken in zwei Schichten arbeiten, um mehr Geld zu verdienen für die Rückkehr, lässt er die Dinge auf sich zukommen. „Ich hatte keinen Plan, niemals.“ 1976 ist das süße Leben vorbei. Beim Urlaub in Diyarbakır, standesgemäß im Opel Kadett Coupé, nimmt Oma ihn zur Seite. Wie es denn mit der hübschen Nachbarstochter wäre. Mein Vater, 31 Jahre alt, willigt ein, meine Mutter auch. Gleich wird Verlobung gefeiert, im Jahr darauf die Hochzeit, drei Tage und drei Nächte lang.

Türkenwitze auf der Arbeit
Hier beginnt nun eine neue Einwanderungsgeschichte, die meiner Mutter. Gerade mal 17 Jahre ist sie, blutjung und unerfahren. Die erste Zeit ist hart, sie heute darüber auszufragen endet in Tränenmeeren orientalischen Ausmaßes. Mein Vater mietet eine Wohnung in Duisburg-Neudorf, keine anderen Türken weit und breit, keine Dönerbude, kein Gemüsehändler, der auch Auberginen hat. Und so besitzt auch meine Mutter bald Vokabelhefte. Mein Vater lernt abends nach der Arbeit mit ihr. Schon neun Monate später komme ich zur Welt, meine Mutter und ich lernen zusammen Deutsch. Die erste Nachbarin, mit der sie sich anfreundet, wird zu meiner heißgeliebten Tante Bärbel. Doch mein Vater erinnert sich auch an Unangenehmes: „Einmal hatten wir einen Zettel im Briefkasten. Ihr Scheiß-Kanaken, geht in euer Land zurück, stand darauf.“ Auch auf der Arbeit gibt es blöde

Sprüche. „Sie erzählten Türkenwitze, das war nicht schön.“ Hat er denn niemals darüber nachgedacht zurückzugehen? „Nein, ich wollte bleiben und gegen die Vorurteile kämpfen.“ Mein Vater ist fest davon überzeugt, dass es in jedem Volk nette und doofe Menschen gibt.

Familie mit Migrationshingergrund: Songül Tayfur (51), Ali Tayfur (66) und WAZ-Redakteurin Rusen Tayfur (33)

Familie mit Migrationshingergrund: Songül Tayfur (51), Ali Tayfur (66) und WAZ-Redakteurin Rusen Tayfur (33)
Foto: © Tanja Pickartz / WAZ-Fotopool

Und doch wären wir fast alle wieder fortgewandert. Das war 1984, ein paar Monate vor meiner Einschulung. Mein Vater, damals im Betriebsrat, hat täglich türkische Kollegen vor sich, die darüber nachdenken, die Rückkehrprämie anzunehmen, mehrere tausend Mark. „Tut es nicht“, rät er ihnen, „ihr werdet es bitter bereuen.“ Doch dann kommt dieser Tag, an dem Wut und Stolz über die Vernunft siegen. An dem mein Vater sich streitet mit einem Vorgesetzten und kündigt. Die zweite folgenschwere Entscheidung. Für meine Mutter bricht eine Welt zusammen. Im vollbepackten Ford Granada geht es Richtung Türkei. Vier Monate lang versucht mein Vater Arbeit zu finden. „Aber ich habe gesehen, wie schwer es wird, wieder Fuß zu fassen. Es war nicht mehr die Türkei, die ich 1969 verlassen hatte.“ Pünktlich zum neuen Schuljahr sind wir wieder in Duisburg. „Da habe ich entschieden, dass ich nicht mehr zurück will“, sagt mein Vater. Deutschland wird unser aller Heimat. 2001 lassen wir uns einbürgern. Meine Eltern leben gerne hier. Trotzdem: „Ich bin kein Deutscher“, sagt mein Vater. „Man kann nicht aus Äpfeln Birnen machen.“

Bildergalerie. Fotos: Tanja Pickartz / WAZ FotoPool und Bernd Lauter/WAZ-Fotopool

erschienen in: WAZ, 08.10.2011

 

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