Das Leben junger Flüchtlinge in Berlin
von Hadija Haruna
Hamid ist 16 Jahre alt, als er damals ankommt in der Fremde. Aus seiner Heimat Afghanistan hat er nicht viel mitgebracht. Er ist allein unterwegs. Wenn Hamid jetzt von seinem Leben erzählt, klingt es nach zu viel Erfahrung für einen 26-Jährigen. Nach seiner Ankunft lebt er zehn Jahre als Asylbewerber in Berlin, bevor er im vergangenen Jahr eine Duldung erhält und immer wieder kurz vor der Abschiedung steht. “In der Hoffnung, dass alles besser wird, wurde alles schlimmer”, sagt er. Wo seine Eltern heute leben? Hamid weiß es nicht.
Hamid war ein so genannter minderjähriger unbegleiteter Flüchtling. In Berlin stammen sie hauptsächlich aus Vietnam, Afghanistan, Irak, Guinea und Äthiopien. Sie erhalten eine Duldung, wenn ihr Asylantrag abgelehnt wird, sie aber nicht abgeschoben werden können, weil sie beispielsweise keinen Pass besitzen oder die Behörden die Situation in ihrer Heimat offiziell weder als gefährlich noch als ungefährlich einstufen können. Im Fachjargon bedeutet geduldet zu sein, dass der Aufenthalt in Deutschland unrechtmäßig ist, aber die Abschiebung ausgesetzt wird. Für wie lange, bleibt ungewiss.
Genehmigungen der Ausländerbehörde
Wie fühlt es sich an, wenn das Zuhause niemals ein wirkliches Zuhause ist? Geschichten darüber erzählen auch Hamids Freunde: Khaled, Yousef, Marina, Violetta und Mohammed. Sie sind Teil der 18-köpfigen Berliner Gruppe Jugendliche ohne Grenzen (JOG), einer bundesweiten Initiative junger Flüchtlinge, die zum Beratungs- und Betreuungszentrum für junge Flüchtlinge (BBZ) gehört. Um sich zu organisieren, vernetzen sie sich über das Internet. Denn sich im realen Leben zu treffen, ist schwierig, weil sie der so genannten Residenzpflicht unterliegen. Das heißt, dass sie ohne eine Genehmigung der Ausländerbehörde den ihnen zugewiesenen Landkreis nicht verlassen dürfen. Bei einem Verstoß machen sie sich strafbar. “Das ist wie ein Gefängnis im Kopf”, sagt Hamid und seine Freunde nicken zustimmend.
Ihr Leben ist eines voller Sonderregelungen und Geheimnisse: “Während Freunde Klassenfahrten, Praktika oder Auslandssemester erleben, sitzt du zu Hause rum”, sagt Mohammed. Was viele nicht wissen: Geduldete dürfen nur in Ausnahmefällen arbeiten und keine Ausbildung machen, egal wie gut ihre schulischen Leistungen sind. Sie haben keine Schulpflicht, sondern nur ein Schulrecht, das bis zur 9. Klasse gilt. Und ob sie im Anschluss eine weiterführende Schule besuchen dürfen, habe viel mit Glück und kulanten Schulleitern zu tun, sagt Yousef: “Du versuchst nicht zum Außenseiter zu werden und erfindest Geschichten, um nicht aufzufallen – bis du auffliegst.”
Yousef und seine Familie sind so genannte Kettengeduldete. Sie gehören zu den zwei Drittel aller bundesweit 86.000 Geduldeten, die länger als sechs Jahre in Deutschland leben. Flüchtlingsorganisationen schätzen, dass etwa neun Prozent von ihnen minderjährige Flüchtlinge sind. Yousef lebt zusammen mit seiner Mutter und seiner Schwester in einem kleinen Zimmer in einem Asylbewerberheim. Seit acht Jahren statten sie mal wöchentlich, mal monatlich der Ausländerbehörde einen Besuch ab, um ihre Duldung zu verlängern – immer mit der Angst, dass sie den Stempel dafür nicht erhalten und in den Libanon abgeschoben werden. Seit seinem Realschulabschluss habe Yousef drei Zusagen für einen Ausbildungsplatz zum Restaurant- und Hotelfachmann bekommen. Dreimal habe es “Nein” bei der Ausländerbehörde geheißen. Letztes Jahr sei ihm zumindest ein Kurs zur Pflegeassistenz bewilligt worden, sagt der 21-Jährige. “Als Geduldeter nimmst du, was du kriegen kannst.”
“Wir sind gekommen, um zu bleiben – und gehen nicht mehr weg!”, lautet einer der Leitsprüche der Jugendlichen ohne Grenzen. Gemeinsam mit Gewerkschaften, Flüchtlingsverbänden und Nichtregierungsorganisationen kämpfen sie für ein dauerhaftes Bleiberecht und die vollständige Anerkennung der Kinderrechte der Vereinten Nationen. Denn in Deutschland gelten junge Geduldete beispielsweise schon mit 16 Jahren als erwachsen und damit “verfahrensfähig”.
Das macht dich fertig
Im März hat der Bundestag eine neue Bleiberechtsregelung für jugendliche Geduldete beschlossen: Wer vor Ende seines 14. Lebensjahres eingereist ist, seinen Antrag zwischen 15 und 21 Jahren stellt und mehrere Integrationsvoraussetzungen erfüllt, kann eine Aufenthaltserlaubnis bekommen. Der zu zahlende Preis: die Trennung von den Eltern und Geschwistern, wenn diese die Anforderungen nicht erfüllen. “Es ist paradox von Menschen zu verlangen, dass sie erfolgreich eine Schule besuchen sollen, wenn sie kein Recht auf Bildung haben, dass sie arbeiten sollen, wenn sie Arbeitsverboten unterliegen, straffrei zu sein, wenn ihre Bewegungsfreiheit sanktioniert wird, und sich zu integrieren, wenn sie von der Gesellschaft ausgeschlossen und in Lagern untergebracht werden”, sagt Mohammed.
Er und Khaled (23) haben vor einem Jahr ihr Bleiberecht erhalten – vor ihren Eltern. Mohammed (23) kam vor zwölf Jahren aus dem Libanon. Khaled flüchtete mit seinen Eltern vor elf Jahren aus Syrien. Auch für Hamid hat das Leben in der Ungewissheit ein Ende. Vor sechs Monaten erhielt er eine einjährige Aufenthaltsgenehmigung. Nur bei Yousef und seiner Familie steht das Urteil noch aus – in ein paar Monaten entscheidet die Härtefallkommission über ihren Fall.
Auf dieses Urteil haben Marina und ihre Familie zwanzig Jahre gewartet. Ihre Mutter war mit ihr und den Geschwistern als Zweijährige aus Serbien nach Deutschland geflohen. Nach dem Realschulabschluss habe sie drei Jahre zu Hause gesessen, sich gelangweilt und gewartet. “Das macht dich fertig. Demokratie herrscht eben nicht für Geduldete”, sagt Marina. Deshalb sei auch das Gefühl so wichtig, mit diesen Problemen nicht alleine zu sein. In der Gruppe würden alle das Gefühl der Ausgrenzung kennen – das Leben mit der Angst und Geschichten von Freunden, die abgeschoben und nicht mehr wiedergekommen seien, sagt Violetta. “Dabei ist Deutschland für die meisten von uns die einzige Heimat, die wir kennen.”
Das Beratungs- und Betreuungszentrum für junge Flüchtlinge, zu dem die Initiative Jugendliche ohne Grenzen gehört
Hadija Haruna studierte Politikwissenschaften in Frankfurt. Als Redakteurin arbeitet sie für die junge Welle des Hessischen Rundfunks (you fm) und als freie Autorin unter anderem für den Tagesspiegel, das Fluter Magazin und die ZEIT. Auf ihrer Homepage hadija-haruna.de veröffentlicht die Deutsch-Ghanaherin regelmäßig ihre Texte.
erschienen auf: www.fluter.de, 23. Mai 2011
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