Media4Us > Über Media4Us > MITMACHEN!
Jul 022012
 

Russischsprachige Demenzkranke teilen sich eine Wohnung. Ein Experiment macht Schule

Von Matilda Jordanova-Duda

Es riecht nach gebratenen Zwiebeln, im Fernsehen läuft ein sowjetischer Kriegsfilm. Zwei alte Frauen sitzen am langen Holztisch, schauen mit einem Auge hin und unterhalten sich über irgendwas. Ein ausgeblichener orangefarbener Plüschtiger liegt daneben. Leonid Torgovitski streicht der einen im Vorbeigehen über den Rücken: Es ist seine Schwiegermutter, die seit 5 Jahren in dieser WG für russischsprachige Demenzkranke lebt. Ein Mann, schick herausgeputzt in hellblauem Hemd und dunkelblauer Hose, Hörgerät hinterm Ohr, trägt 4 pralle Mülltüten aus der Küche und stellt sie neben die Tür. „Guten Tag, Prokofij, Sie haben eine Aufgabe?“, grüßt Torgovitski. „Und wer bist du?“, fragt der Alte. „Ich bin Lenja“.

Torgovitski, im richtigen Leben Software-Ingenieur, ist Mitgründer und Geschäftsführender Gesellschafter von „Nascha kwartira“ (Unsere Wohnung) GbR, der Demenz-WG. Und wie es dazu kam? Vor ca. 6 Jahren war seine Familie mit ihren Kräften und Nerven am Ende: Mit der Alzheimer-kranken Schwiegermutter ging es bergab. Sie verlor Portemonnaies und Personalausweise, aß nichts oder alle Vorräte auf einmal, schmiss Abfall aus dem Fenster. Auch der ambulante Pflegedienst war keine Lösung. „In der klassischen Pflege ist jede Leistung genauestens beschrieben“, sagt Torgovitski: „für das Waschen des linken Beins soundsoviel Sekunden“. Die Pfleger geraten dadurch unter Zeitdruck, die Patientin, die ihre Anweisungen nicht verstand, in Panik. Und es tat in der Seele weh mitzuerleben, wie die einstige Powerfrau, Leiterin eines Chemielabors, zusehends zu einem Häufchen Elend wurde.

Ein Altenheim kam für die Torgovitskis jedoch nicht in Frage: „Das ist voller Regularien, die uns an die Pionierlager unserer Kindheit erinnern“. Die Eltern nur zu bestimmten Zeiten besuchen, keinen Einfluss auf die Hausordnung haben – nein, danke. Da hörten sie von einem ganz neuen Konzept. Das größte Kölner Immobilienunternehmen GAG, der örtliche Pflegedienst der Diakonie und die Agentur für Wohnkonzepte warben für eine russischsprachige Senioren-WG. „Wir hatten anfangs zwar mehr Fragen, als man uns Antworten geben konnte“, erinnert sich Torgovitski. „Aber letztendlich hat uns bestochen, dass wir bei dieser Konstruktion die Oberhand haben“. Bekannt ist sie aus dem Kindergartenbereich: Dort schließen sich Betroffene zu einer Elterninitiative zusammen, um die Betreuung ihrer Kinder zu organisieren. Nur dass es hier andersherum läuft.

Die Interessengemeinschaft mietete also eine geräumige neue Wohnung von der GAG und beauftragte den Pflegedienst der Diakonie mit der Betreuung rund um die Uhr. Speziell für „Nascha kwartira“ stellte dieser russischsprachiges Personal ein. Nachmittags kommen Mitarbeiter des Kultur- und Integrationszentrum Phönix, machen Gesellschaftsspiele mit den Alten, singen mit ihnen oder lesen ihnen vor. In der WG ist Platz für 8 Personen. Jeder hat sein eigenes Zimmer mit Terrasse, die Küche, Sanitäreinrichtungen, der Wohnraum und ein Garten sind gemeinsam.

In der Stadt ging ein Gerücht um, ein reicher Jude finanziere die Einrichtung und sorge nur für das Beste, schmunzelt Torgovitski. Aber es gibt keinen solchen reichen Juden. Da die jüdischen Kontingentflüchtlinge die Grundsicherung und die Aussiedler meist eine kleine Rente beziehen, kommt letztendlich die Kommune für die Kosten auf. Welche Möbel in den Zimmern stehen und was auf der Speisekarte, ob jetzt renoviert wird oder in ein paar Monaten: „Alles, was den Alltag ausmacht, bestimmen die Familienangehörigen“. Oder die amtlich bestellten Betreuer. Alle 3 Monate werden die anstehenden Dinge gemeinsam besprochen.

Feste Regeln gibt es nicht. „Es pendelt sich ein“, sagt Torgovitski, „dass alle zur ungefähr gleichen Zeit essen. Aber wenn einer Langschläfer ist, dann bekommt er das Frühstück eben später. Falls jemand für seine Mutter nur das Bananenjoghurt einer bestimmten Marke will, dann kauft das Personal dieses Produkt ein“. Die Verwandten bestimmen sogar mit, welcher Arzt gerufen wird und welche Arzneien genommen werden dürfen. Schließlich wissen sie am besten, ob ein bestimmtes Mittel die Mutter depressiv macht. Und gereizte Senioren mit Medikamenten ruhigstellen – das geht schon gar nicht.

Gegenwärtig leben 6 Betagte in der WG: Die Hälfte jüdischer Herkunft, die anderen sind Russen oder Aussiedler. Sie kommen aus verschiedenen Regionen der ehemaligen Sowjetunion, haben ein unterschiedliches Bildungsniveau, andere Sitten sowie je einen anderen Demenzgrad. Einige sind noch gut auf den Beinen und helfen im Haushalt mit, andere sind dazu nicht mehr in der Lage. Manche schaffen es noch, die Telefonnummer ihrer Töchter und Söhne anzuwählen. Andere können nicht mal den Hörer abheben.

Wie kommen diese unterschiedlichen Persönlichkeiten jeden Tag 24 Stunden miteinander aus? Besser als man denkt, meint Torgovitski. „Sie haben die Geduld, 30 Mal dieselbe Frage ausführlich zu beantworten, weil sie vergessen haben, sie schon mal beantwortet zu haben. Und, es ist kein Witz, sie freuen sich jedes Mal von Neuem, hier interessante Leute kennen zu lernen. Meine Schwiegermutter ist wirklich aufgeblüht“. Die bettlägerige Dame nebenan wurde auf der Tragbahre angeliefert. „Ich dachte damals, sie schafft es keine 2 Wochen, aber sie lebt und lebt“. Jetzt dürfte sie weit über 90 Jahre alt sein.

Lina, die ehemalige Ärztin aus St. Petersburg, hat sich mit dem Kriegsveteranen Prokofij angefreundet: „Gucken Sie, wie viele Freundinnen Prokofij hat!“ zeigt sie auf ihren Fernseher: „Sie wollen ihn alle beschützen!“ Wie alt sie ist, weiß sie nicht mehr, nur dass sie vor langer-langer Zeit in einer Poliklinik gearbeitet hat. „Hier ist es sehr schön, man kümmert sich um uns. Mal schauen, was sie nachmittags mit uns vorhaben“.

Da es unter den WG-Familien keine „praktizierenden“ Juden gebe, spielt die Religion keine Rolle im Alltag der Senioren. „Man würde vielleicht zu einem Feiertag gratulieren und eins darauf trinken – das war es auch“, sagt Torgovitski. Aber es gebe andererseits immer wieder einen latenten Antisemitismus bei den nicht-jüdischen Bewohnern, wie das in der Sowjetunion halt so war. „Dann gibt es Zank wie im Kindergarten“. Das Personal – ebenfalls teils jüdischer Herkunft –  soll in solchen Fällen beschwichtigen und ablenken. „Und wir prüfen genau, wer zu uns passt“, so Torgovitski. Über jeden Aufnahmeantrag müssen die GbR-Mitglieder abstimmen. Aufgenommen wird, wer mindestens 75 Prozent der Stimmen auf seiner Seite und eine Probewoche gut bestanden hat.

Und das obwohl es noch freie Plätze und leichte Verluste bei der Miete gibt. In den WGs für deutsche Senioren, die nach dem Muster von „Nascha kwartira“ seitdem entstanden sind, stehen die Bewerber Schlange. Hier jedoch nicht. Warum nicht, kann Torgovitski nur vermuten. „Unsere Konstruktion ist schwer zu vermitteln, außerdem verlangt es den Familien einiges Engagement ab. Andererseits halten es unsere Landsleute für selbstverständlich, die alten Eltern zuhause zu pflegen und fühlen sich dabei wie Helden. Aber es geht gar nicht! Wie kann man die Wohnung barrierefrei machen, überall für gutes Licht sorgen, für Anregung und Unterhaltung?“ Zweifler schickt er deshalb zu einem Gespräch mit Irina Moldaver. Die Schwiegermutter der Kölnerin lebte 3 Jahren in „Nascha kwartira“: „Diese drei Jahre“, glaubt sie, „wurden ihr dadurch geschenkt“.

erschienen in: Jüdische Allgemeine, 27. Oktober 2011 (43/11)

Sorry, the comment form is closed at this time.