Zu Besuch bei den Familien von fiftyfifty
Gastbeitrag von Bastian Pütter (bodo e. V.)
Seit der EU-Osterweiterung gehören in ganz Europa Roma aus Bulgarien und Rumänien zum Stadtbild. Während beinahe überall anders versucht wird, sie mit bürokratischen Hürden und ordnungspolitischen Schikanen zur Weiterreise zu bewegen, kommen die neuen Zuwanderer in Düsseldorf an. Das ist zwar alles andere als konfliktfrei, und auch hier sind die Kapazitäten begrenzt, doch fiftyfifty zeigt, dass es geht. Ein Besuch bei unserer Schwesterzeitung in Düsseldorf und bei Bobi und Ana, bei Claudia, bei Remus und Monica und ihren Kindern.
Zu den Absurditäten der EU-Gesetzgebung gehört, dass EU-Bürger aus Bulgarien und Rumänien sich zwar in Deutschland aufhalten, aber bis 2014 hier nicht angestellt arbeiten dürfen und von beinahe allen staatlichen Leistungen ausgeschlossen sind. Eine Rumänin, die im Park schlafen muss, ist nicht obdachlos, sondern „Touristin“.
Hubert Ostendorf hat diese Verlogenheit nicht mehr ertragen wollen. Hubert ist Mitbegründer des Düsseldorfer Straßenmagazins fiftyfifty und Kopf der „fiftyfifty-Galerie“. Hier wird von Größen wie Gerhard Richter oder Markus Lüpertz gespendete Kunst zu Gunsten der gemeinnützigen Arbeit verkauft. Gleichzeitig ist die Galerie eine der Ausgabestellen des Straßenmagazins. Über die letzten 17 Jahre hat vor allem die Galerie dem Verein Rückhalt in der bürgerlichen Mitte und Autorität in der Kommune verliehen, die nun bitter nötig ist. Denn fiftyfifty nimmt sich der Neuzuwanderer an.
Die Insel der Glückseligen
Auch wenn es ziemlich geknirscht hat am Anfang und er sich nicht nur Freunde gemacht hat, inzwischen ist die Integration rumänischer Roma in Düsseldorf weiter fortgeschritten als irgendwo sonst. Hubert hat rumänisch gelernt und kämpft unermüdlich für seine Leute und gegen die zahlreichen Widerstände. 700 rumänische VerkäuferInnen hat fiftyfifty aufgenommen, 25 Familien haben sichere Wohnungen und eine Perspektive.
„In Berlin leben 200.000 Roma, 80% sind nicht gemeldet, die wenigsten Kinder haben Zugang zum Schulsystem. Hier sind alle gemeldet, der Außendienst des Einwohnermeldeamtes kontrolliert. Und alle schicken ihre Kinder zur Schule. Die medizinische Versorgung ist durch ein Ärztenetzwerk sichergestellt. Das ist einzigartig in Europa. Wir sind hier die Insel der Glückseligen.“ Diese einzigartige Situation hat fiftyfifty hart erkämpft. Mit Kommune, Vermietern und dem landesgeförderten fiftyfifty-Projekt „eastwest“ ist ein fragiles Netz entstanden, das inzwischen 25 großen Familien Halt gibt. Der Verkauf des Straßenmagazins – zehn Zeitungen am Tag werden pro Person ausgegeben – sorgt für ein kleines Einkommen, meist wechseln sich die Eltern beim Verkauf ab. Gemeinsam mit Wohn- und Kindergeld und mit Lebensmittelspenden durch die Franziskaner kommen die Familien über die Runden.
Gastfreundschaft
In der Galerie lernen wir Bobi und Ana kennen, die uns in ihre Wohnung einladen. Wenig später biegt sich der Tisch unter Brot und Käse, Wurst und gebratenen Eiern, Gurken und Tomaten. Natürlich sieht man, dass hier nicht das Geld zu Hause ist, aber bei Gästen wird nicht gespart. Bobi achtet streng darauf, dass es nicht bei Anstandshäppchen bleibt und füllt immer wieder unsere Teller. Nebenbei erzählt der 32jährige vom Glück seiner geregelten Arbeit, von der Sicherheit, die der Verkauf des Straßenmagazins fiftyfifty biete und auch vom Hunger in Rumänien, wenn wieder keine Arbeit zu finden war. Die Vier-Zimmer-Wohnung befindet sich zwar in einem eher heruntergekommenen Haus, mit leuchtender Wandfarbe, von fiftyfifty vermittelten Möbeln, Familienfotos an den Wänden und dem bei einer Großfamilie nötigen Ordnungssinn ist sie aber freundlich und einladend. Und voll. Uns fällt es zu Beginn gar nicht leicht, die Kinder den einzelnen Familien zuzuordnen. Es ist ein ständiges Kommen und Gehen. Im Haus leben mehrere Familien aus Rumänien. Das hat sich als einfacher erwiesen, sagt Hubert. Mit den vielen Kindern und dem vielen Besuch tut sich ein „normales“ Mietshaus schwer.
Wunder und Berufswünsche
Und um diese Kinder geht es. Während Bobi und Ana früher gehungert haben, damit ihre Kinder zu essen hatten, wollen sie und die anderen nun alles tun, um ihnen ein besseres Leben zu ermöglichen. Claudia kommt dazu. Ihre dreijährige Tochter Andra ist Huberts Patenkind. Als Hubert Claudia kennenlernte, war sie verzweifelt. Andra hatte einen Herzfehler, ein Loch in der Herzscheidewand. Nur eine Operation konnte ihr Leben retten, bestätigte der Kinderkardiologe. 12.000 Euro sollte die Operation kosten, Hubert wollte um Spenden bitten, doch erst musste Andra getauft werden – und Hubert wurde Pate. Die nächste Untersuchung zeigte: Das Loch war verschwunden. Möglich, aber selten, sagten die Ärzte. Ein Wunder, sind sich alle im Raum sicher. Und Huberts „gute Energien“.
Ich unterhalte mich mit Petrisor, ihrem Bruder, der auch erstaunlich gut deutsch spricht und in die dritte Klasse geht. Dort ist er der einzige Rom. Ein leiser, freundlicher Junge, der Sport und Schwimmen als seine Lieblingsfächer nennt, aber für die Erwachsenen lächelnd nachreicht, dass er eigentlich alle Fächer mag. Ob er Freunde in der Klasse hat? „Alle, außer den Mädchen.“ Und wenn er groß ist? „Möchte ich einen Beruf haben.“
Anas und Bobis ältester Sohn Ionuts weiß es genauer. „Ich möchte Automechaniker werden, aber das heißt Mechatroniker.“ Die älteren haben ihre Mühe mit der neuen Welt, den jungen Kindern fällt die Eingewöhnung leicht. Nach Rumänien zurück möchte keiner. Es ist keine drei Jahre her, da sagte der damals sechsjährige Petrisor beim Anblick der Dusche in der damals neuen Wohnung resigniert: „Das Haus ist kaputt, es regnet rein.“ Mittlerweile lachen alle gemeinsam über die Anekdote und Petrisor ist sie ein bisschen peinlich.
Unter Generalverdacht
Dass längst nicht alles einfach ist in im Leben mit der Aufnahmegesellschaft, wird deutlich, als Petrisor beim Spiel sich selbst kommentiert: „Scheiß Zigeuner!“
„Es gibt keine Gruppe, keine Ethnie, die in so starker Weise Vorurteilen ausgesetzt ist“, sagt Hubert. „Ein Rom ist hier 24 Stunden unter Generalverdacht.“ Als er ein Fahrrad an eine der Töchter eines fiftyfifty-Verkäufers verschenkte, nahm die Polizei es ihr kurze Zeit später ab, es könne ja nur gestohlen sein. Inzwischen kleben kleine Schenkungsurkunden an allen Rädern, ausgestellt von fiftyfifty. Monica (24) berichtet von regelmäßigen Ausweiskontrollen – „Wo gehst du anschaffen?“. Ständig muss sie beim Einkaufen ihre Tasche leeren. Monica ist inzwischen selbstbewusst genug, auf ihr Recht zu bestehen, aber gerade für die Jungen seien die Verdächtigungen eine riesige Belastung, sagt Hubert: „Das Schlimme ist: Es ist ein Wechselspiel. Wenn jeder sagt, du bist ein Dieb, warum solltest du dann nicht stehlen?“
Auch die MitarbeiterInnen bei fiftyfifty haben sich ein dickes Fell zulegen müssen. Beschimpfungen per Mail und Telefon waren und sind an der Tagesordnung, die fast einhellige Meinung: Diese Leute, „die Zigeuner“ gehören hier nicht hin.
Die Chance auf eine Zukunft
Dass sie trotzdem hier sind, hat zwei einfache Gründe: Sie mussten weg und sie dürfen hier sein. Als Bulgarien und Rumänien – ohne die elementarsten Bedingungen zu erfüllen – in die europäische Union aufgenommen wurden, hat man sie vergessen. Die Brüsseler Bürokraten waren nicht darauf gekommen, dass eine Gruppe, die Hunger leidet, weil sie vom Arbeitsmarkt weitgehend ausgeschlossen ist, und die in Angst lebt, weil es immer wieder zu Übergriffen und Pogromen kommt, sich auf den Weg machen könnte. Sie sind die Unerwünschten. So schwierig ihre Lage ohne Rechte und ohne Versorgung in Deutschland ist, so viel besser ist sie „zu Hause“.
Remus (31), Monicas Mann, sagt energisch: „Ich will hier leben. Meine Kinder sollen hier zehn Jahre zur Schule gehen.“ Und: „Ich brauche nicht viel Geld, keine 20 Zimmer und sechs Autos. Ich wünsche mir, zu leben wie normale Leute.“ Wer eine Chance suche, finde sie auch. Kriminell zu werden, sei das letzte, was er sich vorstellen könne. Für 100 Euro ins Gefängnis zu gehen? „Ich will meine Kinder aufwachsen sehen. Wer kriminell wird, hat kein Herz, kein Blut, sondern Wasser.“
Die Frage, ob er manchmal Heimweh hat, beantwortet er deutlich wie die anderen: „Nein.“ Er lacht bitter. „Ich bring dir eine Zeitung aus Rumänien mit. Da ist alles kaputt. Die Leute machen doch hier keine Probleme, weil dort alles gut ist.“
Statt an Rumänien denken sie an die Zukunft, vor allem an die ihrer Kinder. Hubert übersetzt: „Die Kinder sind unser Reichtum. Das Wertvollste, was wir haben“ Ana nickt.
„Insel der Glückseligen“: Eine Fotoserie von Mauricio Bustamante
INFO
In den Mitgliedstaaten der Europäischen Union ist die Freizügigkeit der Arbeitnehmer ein Grundrecht. Deutschland erhält trotz der Kritik der EU-Kommission die Beschränkung der Freizügigkeit für Menschen aus Rumänien und Bulgarien bis Ende 2013 aufrecht. Zuwanderer dürfen damit einreisen, aber nicht angestellt arbeiten und sind bis auf Ausnahmen von Sozialleistungen ausgeschlossen. Auch Angebote der Wohnungslosenhilfe und Armutsvorsorge stehen Neuzuwanderern nur sehr eingeschränkt zur Verfügung. „Touristen“ gelten nicht als obdachlos. 2011 zogen 52.000 Menschen aus den neuen EU-Mitgliedsstaaten Rumänien und Bulgarien nach Deutschland, in Dortmund sind ca. 2.500 gemeldet. Die meisten gehören der Volksgruppe der Roma an und sind in den Herkunftsländern Opfer massiver Diskriminierung. Im Gegensatz zur Zeit unter den sozialistischen Regimen liegen die Arbeitslosenquoten heute z.T. über 90 Prozent.
erschienen in: bodo. Das Straßenmagazin, Mai 2012
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