Media4Us > Über Media4Us > MITMACHEN!
Mrz 112013
 

von Isabel Merchan

Seit Wochen debattiert das Land über Zuwanderer aus Rumänien und Bulgarien, genauer gesagt über Sinti und Roma. Nach dem Empfinden vieler Deutscher kommen sie in alarmierender Zahl her, machen Kommunen unsicher und nutzen die Sozialsysteme aus. In dem Positionspapier „Armutszuwanderung aus Bulgarien und Rumänien“ schreibt der Deutsche Städtetag, dass „die Balance und der soziale Friede in den Städten in höchstem Maße gefährdet“ seien und nennt enorme  Zuwanderungsraten.

Anfang März forderte Hans-Werner Sinn, Präsident des Wirtschaftsinstituts ifo, der Zuwanderung von „Armutsflüchtlingen“ aus Südosteuropa „einen Riegel vorzuschieben”. Das aber dürfte schwierig sein, denn für Bulgaren und Rumänen gilt Reisefreiheit wie für andere EU-Angehörige auch. Dass 2014 die Grenzkontrollen zu den beiden Ländern entfallen sollen, schürt die Ängste weiter, denn es gibt Prognosen, nach denen dann 120 000 bis 180 000 Menschen von dort nach Deutschland kommen könnten. Inzwischen hat Innenminister Hans-Peter Friedrich auf EU-Ebene ein Veto gegen den Schengen-Beitritt von Bulgarien und Rumänien eingelegt.

In der aufgeregten Debatte haben Sachlichkeit und Vernunft kaum eine Chance. Dabei betont etwa das Rheinisch-Westfälische Institut für Wirtschaftsforschung (RWI), dass „80 Prozent der Menschen, die seit Beginn der EU-Mitgliedschaft 2007 aus diesen beiden Ländern nach Deutschland gekommen sind, einer Erwerbsarbeit nachgehen. Von diesen sind 22 Prozent hochqualifiziert und 46 qualifiziert. Bei diesen Zuwanderern handelt es sich häufig um Menschen mit Berufen, die wir in Deutschland dringend benötigen“. Wie die Berliner Zeitung im Februar 2013 schrieb, sind rumänische Ärzte überproportional nach Deutschland eingewandert und praktizieren hier, was dazu geführt hat, dass Rumänien mittlerweile die niedrigste Arztdichte in ganz Europa hat.

Unterschlagen wird auch, dass nach Deutschland eingewanderte Rumänen und Bulgaren gar keinen Anspruch auf Sozialleistungen haben. Das wurde bei der EU-Osterweiterung verankert, um eine „Immigration in die Sozialsysteme“ zu verhindern. Daran ändert sich auch ab 2014 nichts. Einzige Ausnahme ist das Kindergeld, das jeder EU-Bürger, der hier lebt, erhält.

Der Migrationsforscher Klaus Bade warnte in einem Gespräch mit der Nachrichtenagentur dpa vor hysterischen Reaktionen auf den Zuzug von Roma aus Südosteuropa und negierte gleichzeitig eine massenhafte Armutszuwanderung nach Deutschland. „Das ist Panikmache. Das ist wieder der Appell, eine negative Koalition der Abwehr statt eine positive Koalition der Gestaltung zu schaffen“, so Bade. Verständnis für die Motive von Sinti und Roma, aus ihren Herkunftsländern auszuwandern, in denen sie häufig unter großer materieller Not und Diskriminierung leiden, zeigte Joachim Brenner. Brenner ist Geschäftsleiter des Fördervereins Roma e.V. in Frankfurt am Main und betonte in einem Interview: „Die Leute kommen aus nackter Not.“

Doch Empathie sucht man in der Debatte vergebens, zu sehr fühlen sich viele Menschen offenbar bedroht. Gespannt war die Beziehung zu den Sinti und Roma schon seit ihrer Einwanderung vor etwa 600 Jahren. Das Verhältnis zu dieser größten europäischen Minderheit, die nicht nur in Südosteuropa, sondern etwa auch in Spanien, Frankreich und Deutschland lebt, schwankte stets zwischen romantischer Verklärung und brutalster Ablehnung. Über diese Ambivalenzen hat der Bielefelder Literaturwissenschaftler Klaus-Michael Bogdal 2011 das lesenswerte Buch „Europa erfindet die Zigeuner“ geschrieben. Darin zeigt er die auf Sinti und Roma bezogenen Konstruktionen von Vorurteilen auf, deren Aktualisierung man derzeit erleben kann.

Inzwischen hat sich der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma in einem Schreiben an Bundespräsident Joachim Gauck gewendet. Beklagt wird darin ein neuer Populismus, der von Politikern betrieben werde. Dieser beinhalte Vorwürfe von “Betrug bei Sozialleistungen” und “Missbrauch der Freizügigkeit” bis zu “Asylmissbrauch” und “Kriminalität”. Der Zentralratsvorsitzende Romani Rose kritisiert in dem Schreiben, dass die gegen Roma und Sinti gerichteten Diskussionen aggressiv geführt würden und drohten, zum Wahlkampfthema zu werden. Im Weiteren bittet er Bundespräsident Gauck, mäßigend auf die Parteien einzuwirken.

 

Sorry, the comment form is closed at this time.